Elastischer Ärger, Riesenwut auf Nina und ein unerhörter Tausch sowie das Experiment Liebe – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

Wie gehen Menschen miteinander um? Wie gehen Männer mit Frauen um – und umgekehrt? Und was ist eigentlich Liebe? Ein Experiment mit ungewissem Ausgang? Und wer und warum entführt einen Kater mit glänzend rotem Fell und weißen Pfötchen? Antworten auf solche mehr oder weniger schwierigen Fragen bieten die fünf Deals der Woche, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de eine Woche lang (Freitag, 22.06.18 – Freitag, 29.06.18) zu jeweils stark reduzierten Preisen zu haben sind. Im ersten Angebot, in dem Roman „Saat und Ernte des Joseph Fabisiak“ von Renate Krüger, lernen wir eben jenen Joseph Fabisiak und seine Welt in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts kennen und verstehen vielleicht ein bisschen besser, warum ein wenig später alles so gekommen ist wie es gekommen ist – in Deutschland, in Europa und in der ganzen Welt. Es hat nicht zuletzt mit Leuten zu tun wie Joseph Fabisiak und mit dem, was sie denken und was sie tun und was sie nicht tun. Und auch heute, knapp 100 Jahre später, gibt es noch immer Joseph Fabisiaks …

Eine Einladung zum Mitdenken, die spricht Steffen Mohr mit seinen „Rätselkrimis für Kinder“ aus. Und natürlich dürfen sich auch Erwachsene an diesen kriminalistischen Übungen beteiligen. Vielleicht finden Sie ja heraus, wer „Beppo“ entführt hat. Richtig. „Beppo“, das ist der schon erwähnte Kater mit dem glänzend roten Fell und den weißen Pfötchen. Gleichfalls vor allem für kleine Leser gedacht ist „Der vertauschte Vati“ von Manfred Richter über einen höchst ungewöhnlichen Rollentausch, den sich wohl nur ein Schriftsteller ausdenken kann. Oder haben Sie schon mal davon gehört, dass sich der Vater morgens ins Bett legt, während der Sohn zur Arbeit geht? Aber wir wollen nicht schon hier alles verraten.

Freunde fantastischer Literatur werden sich auf die Wissenschaftlich-fantastische Erzählung „Rekordflug im Jet-Orkan“ von Carlos Rasch freuen, die in diesem Jahr übrigens ihren 50. Geburtstag feiern kann und sich noch immer spannend und kräftig wie ein Hurrikan liest. Apropos Hurrikan, merken Sie sich doch bitte schon mal den Namen Dorit …

Wie gehen Männer mit Frauen um und umgekehrt?, hatten wir weiter oben gefragt. Zumindest wie das Mitte der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in der DDR aussah, das lässt sich in „Das Mädchen Ann und der Soldat“ von Heinz Kruschel nachlesen. Das Buch gibt zugleich Antworten auf die Frage danach, was eigentlich Liebe ist und wie man und frau sie findet.

Jetzt aber zurück zum ersten Deal der Woche, zurück ins vorige Jahrhundert und ab nach Großenau, Provinz Posen.

Erstmals 1969 veröffentlichte Renate Krüger im Leipziger St. Benno-Verlag ihren Roman „Saat und Ernte des Joseph Fabisiak“: Die Ereignisse des Romans beginnen in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg und reichen bis zum Ausgang des 2. Weltkrieges. Der Bäckermeister Joseph Fabisiak lebt als wohlhabender, tüchtiger und geachteter Bürger in einer westpreußischen Kleinstadt. Er schämt sich seiner polnischen Herkunft, ist fleißig, um in den Ruf preußischer Tüchtigkeit zu kommen, und fromm, um als ehrsamer Bürger dazu stehen. Den Beginn der Handlung bildet das Liebensverhältnis von Sofie Fabiasak, der einzigen Tochter des Bäckers, mit dem jüdischen Kaffeehausmusiker Ignaz Freudenfeld. Der junge Ignaz hat sich von seiner orthodoxen Familie getrennt, um eigene Wege zu gehen, über die er aber zunächst keine klaren Vorstellungen hat. Seine wirtschaftliche Notlage lässt ihn nicht zum Musikstudium kommen. Als Sofie ihm langweilig wird, verlässt er die Stadt. Sofie erwartet ein Kind und wird von ihrem Vater verstoßen. Sie findet Aufnahme bei Fabisiaks Schwester Wanda, die während des 1. Weltkrieges die Geliebte eines deutschen Offiziers und somit zum Abscheu der Familie geworden ist. In Norddeutschland unterhält sie jetzt eine kleine Gemüsehandlung. Und ohne diese tüchtige Frau, die so selbstverständlich menschlich und resolut ist, würde es mit Fabisiaks Familie ein böses Ende nehmen, denn Joseph Fabiasiak ist ein unseliger Mensch, ein Frömmler und ein Streber, der nichts liebt als sich und den Nutzen, der alle menschlichen Beziehungen zerstört und zum Verräter wird, wenn er sich bedroht fühlt. Mit ihm gelingt der Autorin ein ausgezeichnetes Porträt eines Spießers, dem Geschäft und Religion zu einer nützlichen Einheit verschmelzen. Auch die positiven Romanfiguren folgen keinem Schema, sind nicht nur typisch fromm und tüchtig. Der Autorin sind in diesem Roman überzeugende und differenzierte Charaktere gelungen. Aber begeben wir uns zunächst an den Anfang des Buches und in das Jahr 1929:

„Regelmäßig und eintönig ist das Leben in der kleinen Stadt Großenau, Provinz Posen. In ihrer Geschichte hat es nicht an Unruhen und vielerlei Auseinandersetzungen gefehlt. Manche Bewohner hatten daran sogar eine Art von Gefallen gefunden und mit demselben Wohlgefallen auf die Unruhestifter geblickt wie auf fahrende Schauspieler oder Tierführer, mit denen man sich zwar nicht an einen Tisch setzte, die aber endlich einmal Abwechslung in das Städtchen brachten. Meist waren die Unruhestifter Fremde: Polen, Russen, Juden – immer die anderen, denn die eigentlichen Bewohner lebten bieder und ordentlich, sie nannten das „solide Gesinnung“, aber sie langweilten sich. Und wenn sie ein wenig Unruhe als Unterhaltung empfanden, bekamen sie ordnungsgemäß ein schlechtes Gewissen. So ist es heute noch, im Jahr des Herrn 1929.

Mitten in der Stadt ist der Marktplatz. Mitten auf dem Marktplatz steht das Rathaus und hält mit seinen blanken Fenstern obrigkeitlich nach allen Seiten Ausschau. Im Rathaus sitzt der Bürgermeister und regiert, und er fühlt sich sehr wohl dabei; denn sehr viel Ärger hat er nicht, abgesehen von gelegentlichen Plänkeleien mit Polen oder Juden. Aber dieser Ärger erhält elastisch, er gleicht einer täglichen Gymnastik und bedeutet für den Bürgermeister dasselbe wie für den Stadtmusikanten das Geige üben. Wenn sich der Bürgermeister eine Regierungspause gönnt – und das tut er oft -, blickt er aus dem Fenster seines Amtszimmers auf den Marktplatz, und dies Bild erfreut sein Auge.

Es ist ja ein wirklicher Marktplatz, nicht nur ein historischer, und es wird auf ihm verkauft und gehandelt. In regelmäßigen Reihen prangen die bunten Marktschirme, darunter stehen die Marktfrauen mit ihren Waren. Dort gibt es fast alles zu kaufen. Aus weidengeflochtenen Körben leuchten Pilze, es duftet nach der Feuchtigkeit des Waldes, je nach der Jahreszeit gibt es Blaubeeren oder Preiselbeeren; im Frühjahr liefert der Wald Birkengrün und im Spätherbst Kien, er schenkt Reiserbesen, Waldmeister, Tannenzapfen, Moos. Ja, unser lieber Wald – so sagen die Polen; denn die Polen und die Wälder gehören zusammen. Dort können sie ein ungebundenes Leben in ihrer angeborenen Wildheit führen – das sagen die Deutschen. Für die Stadt taugen die Polen nicht. Sie haben keinen Sinn für Ordnung und solide Lebensart. Aber draußen auf dem Markt machen sie sich ganz gut, findet der Bürgermeister, wenn er aus dem Fenster blickt. Das unterwürfige Handeln liegt ihnen.

Und es tut dem Käufer gut, wenn so mit ihm gehandelt wird. Von weit her aus den Dörfern kommen die Polen, die Frauen mit grellbunten Kopftüchern, die sie tief in die Stirn hineingebunden tragen. Manche sehen wie Nonnen aus: Haare und Stirn sind nicht zu sehen. Neben sich haben sie große Körbe mit Eiern, Hühner mit zusammengebundenen Beinen, Hähne in prächtigem buntem Gefieder, schwere Enten und schneeweiße Gänse, eigens für den Markt sauber gemacht, ja, und sie haben saure Gurken und salzige Käse, geflochtenes Brot und Piroggen. Es gibt nichts, womit ein Pole nicht handeln könnte. Früher kamen sie barfuß, aber das hat ihnen der Bürgermeister untersagt. Nun kommen sie in Pantinen und schweren Schuhen.“

Die „Rätselkrimis für Kinder“ von Steffen Mohr erschienen erstmals 2002 im Loewe Verlag Bindlach: Nina kann es nicht glauben: Ihr Kater Beppo ist spurlos verschwunden. Ob es ihr und Meisterdetektiv Toni gelingt, den Katzendieb zu überführen? Auch Tim muss einen rätselhaften Fall aufklären. Jemand hat sein Briefmarkenalbum gestohlen. Weißt du, wer der Täter ist? Das Buch für Kinder ab acht Jahren ist spannend und geheimnisvoll und lädt zum Mitdenken ein:

Katzendiebe

„Wenn wir zu laut sind, beschweren sich die Nachbarn unter uns!“ Toni lachte. „Wirf mich also leiser auf den Teppich.“

Der lange Benjamin zeigte seinem um einen Kopf kleineren Freund Toni ein paar Griffe, die er gerade im Judotraining gelernt hatte. In diesem Moment klingelte es an der Wohnungstür.

„Oh-oh“, flüsterte Toni. „Das ist bestimmt unsere dicke Nachbarin.“

Vor der Tür stand aber ein dünnes Mädchen: Nina war Tonis ältere Cousine und schon fast dreizehn. Sie wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln. „Ich brauche deine Hilfe, Toni“, schluchzte sie.

„Komm rein, Nina. Benjamin kennst du ja. Darf er mithören?“ Die Sache war die, dass Toni schon manchmal geholfen hatte, wenn es um stibitzte oder bloß verlegte Kugelschreiber ging und einmal sogar um ein gestohlenes Fahrrad. So klein Toni war, so groß war doch sein Grips. Er kriegte einfach alles raus. „Toni“, sagten alle, „ist unser bester Schuldetektiv. Und nicht nur deshalb, weil er unser einziger ist.“

Diesmal jedoch ging es um ein wirklich schweres Verbrechen. Atemlos hörten die Jungen Tonis Cousine zu. Seit zwei Tagen bereits war Beppo – ihr Kater mit dem glänzend roten Fell und den weißen Pfötchen – verschwunden. „Oh, mein armer Beppo“, schluchzte Nina, „er ist bestimmt entführt worden.“

In der Stadt trieben sich nämlich seit einiger Zeit Katzendiebe herum. Die fingen die Tiere, sperrten sie in Käfige und verkauften sie weiter. Ein guter Detektiv, wie Toni es war, zieht aber nicht nur die am nächsten liegende Möglichkeit in Betracht. Er ermittelt in alle Richtungen. Und genau das tat Toni jetzt.

„Hast du einen Feind?“, wollte er von Nina wissen.

„Ich??“ Nina zog die Schultern hoch und überlegte.

„Es ist nämlich so“, erklärte Toni, „dass es gar nicht die Katzendiebe sein müssen, die dir Beppo entführt haben. Es könnte auch ein Trittbrettfahrer sein …“

„Ein was?“, fragte Judo-Benjamin dazwischen.

„Wenn jemand eine Riesenwut auf Nina hat, dann könnte er Beppo fortgeschleppt haben, um ihr eins auszuwischen. Und keiner verdächtigt ihn. Denn alle denken, dass es bestimmt die Tierfänger waren.“

„Robert!“, schrie Nina plötzlich, und auf ihrer Stirn erschien eine tiefe Zornesfalte. Robert, erzählte sie, war der Anführer einer Jungenbande, die gerne Mädchen ärgerte. Da hatte Nina ihm den Spitznamen „Hampelmann“ verpasst. Als ihn die Jungs auch so riefen, hatte er Nina Rache geschworen. Das war vor drei Tagen.

Laut dachte Toni nach: „Robert war also vor drei Tagen in eurer Wohnung? Aber Beppo ist erst seit zwei Tagen verschwunden. Kombiniere: Robert muss deinen Beppo draußen gefangen haben.“

„Beppo jagt jeden Abend im Vorgarten nach Feldmäusen. Dann kommt er aber brav wieder hoch!“

„Weiß Robert das?“

Nina überlegte kurz. „Ganz bestimmt nicht. Er kennt Beppo nur als Stubenkatze.“

„Wir werden diesem Robert einen kleinen Besuch abstatten“, entschied Toni. „Du kommst doch mit, Judomeister?“

„Klar.“ Benjamin reckte sich angriffslustig. Dann machten sich die drei gemeinsam auf den Weg.“

Erstmals vor einem halben Jahrhundert, also 1968, konnten die Leser des Heftes 292 der Reihe „Das neue Abenteuer“ der Verlags Neues Leben Berlin die Wissenschaftlich-fantastische Erzählung „Rekordflug im Jet-Orkan“ von Carlos Rasch lesen. Das E-Book präsentiert den Text in der Originalfassung: Der kubanische Flugkapitän Fernando Tortugas fliegt mit dem veralteten sowjetischen TU-62-M-Transporter von Havanna nach Paris. An Bord befindet sich Professor Benito Cavallo, der als weltbekannter Spezialist für Organverpflanzungen auf dem Pariser Kongress für Chirurgie und Transplantation beweisen will, dass ein lebendes Herz und weitere Transplantationsorgane unbeschadet den transatlantischen Lufttransport überstehen. Als die Meldung von einem großen Eisenbahnunglück in Bagdad kommt, wo Professor Cavallo und die lebenden Organe dringend benötigt werden, verspricht ihm der Flugkapitän, ihn ohne Zwischenstopp in Paris innerhalb von 8 Stunden nach Bagdad zu bringen und das ohne zusätzlichen Treibstoff. Der tollkühne Tortugas will in seinem, nicht für Überschallflug eingerichteten Flieger im Jet-Strom des Tornados Dorit diesen Geschwindigkeitsvorteil nutzen. Aber wird der Treibstoff reichen? Noch aber ist es nicht soweit. Die Erzählung beginnt auf Kuba, wo sich gerade ein Hurrikan austobt:

„Dorit tobte an der Küste entlang. Antonio Branco drückte seine Stirn an das Fensterglas und beobachtete sorgenvoll dieses heulende Chaos draußen, das turmhohe Vorhänge aus Sturzbächen, vermengt mit Sand, Steinen, Zweigwerk und grünem Laub über die kleine Startbahn der Beobachtungsstation jagte. Er bangte um die Flugzeuge in der Halle und um die hohen Antennenmasten. Zeitweise rann das Wasser fingerdick an den Scheiben herab. Die Sicht war gleich Null. Antonio Branco spürte deutlich das feine Beben des Bodens unter seinen Füßen vom Wogenprall der Brandung, die zweihundert Meter entfernt auf den Strand schlug. Ihre Schaumflocken stoben bis zum Hangar hinüber, in dem die Wetterflugzeuge standen.

Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es Zeit war, das fällige Telegramm mit den Messwerten an die Jet-Zentrale in Kanada abzusetzen. Er beugte sich über ein Gerät und stanzte die Codezeichen in den Lochstreifen. Das Papierband fiel diesmal kurz aus. Antonio Branco legte den Codestreifen in den Funkfernschreiber und drückte auf die Starttaste. „Hallo, Kanada! Hallo, Jet-Zentrum! Hier ist Kuba, Messstation Pinar de Fuego: Heute keine Messdaten über das ständige Hochsturmband. Arbeiten durch Hurrikan Dorit unmöglich!“ In Kanada war man schon an solche Fehlmeldungen gewöhnt. Die Jet-Station auf Kuba fiel in den Sommermonaten des Öfteren aus. Die Hurrikane machten jede direkten Messungen auf Tage hinaus unmöglich.

Antonio Branco war allein im flachen Stationsgebäude zurückgeblieben. Wer von den Wissenschaftlern und dem Personal trotz Dorit die weite Fahrt aus der City hierher unternommen hatte, stand jetzt drüben am Hangar und zurrte die Flugzeuge fest für den Fall, dass das Dach abgerissen oder eine Wand der Halle eingedrückt wurde. Die Yankees auf dem Kontinent hatten wieder einmal zu lange gewartet. Dorit hatte abgedreht und bedrohte nicht mehr ihre Küsten. Damit war der Fall für sie erledigt, obwohl der Wettersputnik „Zenit 4“ und der amerikanische Wettersatellit „Tiros 48“ das Auge des Zyklons schon vor Tagen entdeckt hatten. Ihre achtturbinigen Hurrikan-Rangers waren nicht gestartet, um Dorit noch auf dem Atlantik den Garaus zu machen. Der Hurrikan-Charta von Miami zufolge hatten sich die Yankees aber gegenüber allen anderen Staaten des karibischen Raumes dazu verpflichtet, die Wirbelstürme zu bekämpfen. Sie erhielten dafür erhebliche Geldmittel zugebucht.

In diesem Jahr war nur Anita abgefangen worden. Betsy ermattete glücklicherweise von allein in der Yucatánstraße. Cleopatra aber konnte ungehindert über die Karibischen Inseln hinweggehen. Gedachte man auch gegen Dorit nichts zu unternehmen, weil sie die amerikanische Küste nicht bedrohte? Natürlich war es noch immer Glückssache, die Hurrikane am richtigen Zipfel zu erwischen und auf den Atlantik zurückzuschicken oder sie zum Einschlafen zu bringen. Aber das war noch lange kein Grund, die Achtstrahligen nicht starten zu lassen.

Man müsste heute mit einem der kleinen stabilen Zweisitzer bis zur Tropopause aufsteigen, in die Jet-Straße eintauchen und ein Messprogramm abwickeln können, dachte Antonio Branco. Er wettete eins zu tausend, dass entgegengesetzt zur Meinung des Chefs der Windschlauch über Kuba gerade jetzt von Dorit aufgeladen wurde und die Windgeschwindigkeit in großer Höhe alle bisher ermittelten Höchstwerte übertraf. Wahrscheinlich entfachte Dorit im Jet-Band eine verschärfte Windströmung von mindestens vierhundertfünfzig Kilometer pro Stunde, die noch weit jenseits des Atlantiks zu spüren sein würde.

Fernando Tortugas würde ein solches Unternehmen wagen. Er war Pilot der Jet-Station gewesen. Man rechnete ihn zu den besten Fliegern Kubas. Kein Wunder, wenn er schon nach einem halben Jahr von diesem stillen Posten als Wetterflieger wieder weggeholt wurde. Jetzt war er vermutlich Captain auf einem dieser stinkfeinen Musikeimer, die mit Überschall nach Europa flogen. Wer tüchtig war, konnte sich eben die beste Arbeit aussuchen.

Warum, in drei Teufels Namen, hatte sich Fernando Tortugas Knall und Fall wieder vom Zentralflughafen in Havanna anheuern lassen? Sie waren in dem halben Jahr hier auf der Station gute Freunde geworden. Daher wusste Antonio, dass es Fernandos stiller Traum gewesen war, einen Hurrikan-Ranger zu fliegen. Man brauchte allerhand Mut, um bis zum Sturmzentrum vorzudringen und seine Ladung in den Sog einzustreuen. Fernando Tortugas hatte diesen Mut. Aber die Yankees ließen ihn nicht in ihren Verein rein. Wahrscheinlich saß in Miami so ein Kubahasser aus der alten Zeit, dem das Genugtuung verschaffte.

Fernando, kein Freund von langer Trauer, ging seitdem einer neuen, besonders verrückten, aber sportlichen Idee nach: Er gedachte mit dickbäuchigen Lastenseglern in zehntausend Meter Höhe einen ganz billigen Lufttransport über den Ozean hinweg zu probieren, vielleicht mit Früchten. Man bedenke, im Zeitalter der Stratosphären-Liner Lastensegler steuern zu wollen und dabei wie in alten Zeiten den Wind zu benutzen! Deshalb war Tortugas auch zur Jet-Station gekommen und hatte gebeten, eines der zweisitzigen Wetterflugzeuge fliegen zu dürfen. Er wollte ein Gefühl für das Fliegen im Strahlsturm bekommen. War das damals eine Aufregung gewesen, als der bekannte Luftkapitän einfach auf der Piste erschien, die Spanten der Zweisitzer befühlte und dann in zwei, drei Sätzen seinen Plan entwickelte. Man gab ihm selbstverständlich die Maschine, erklärte ihn aber im Übrigen für lebensmüde.“

Erstmals 1981 brachte der Kinderbuchverlag Berlin als Band 146 seiner beliebten Reihe der „Kleinen Trompeterbücher“ das lustige Buch für Kinder ab 6 Jahren „Der vertauschte Vati“ von Manfred Richter heraus: Vater Bredemeier hat wohl recht, wenn er meint: „Es ist gut, dass wir uns einmal verändert haben, verändern macht schlau.“ Der Rollentausch zwischen Vater und Sohn – mit Spaß erzählt – bringt für beide eine wichtige Erkenntnis: Man muss aufeinander Rücksicht nehmen, egal, ob man groß oder klein ist. Eine merkwürdige Geschichte ist auch die von der stummen Gitarre, die den faulen Bolle Ohlebomm lehrt, sich auf seine eigentliche Aufgabe zu besinnen. Voll hintergründigem Humor erzählt sie von einem Künstler, der über dem Wohlleben vergisst, den Menschen Freude zu bringen. Hier der Anfang der Titelgeschichte:

DER VERTAUSCHTE VATI

Jeden Morgen, wenn Vati Bredemeier aus dem Bett steigt, gibt es einen kleinen Ärger: Vati Bredemeier ist noch müde und brummt. Er steht schlaftrunken im Wohnzimmer, kratzt sich am Kopf, hustet ein bisschen und kämpft mürrisch mit der Hose. Es bereitet ihm sichtlich Mühe, das richtige Bein in die richtige Röhre zu fädeln. Wer das nicht schafft, muss die Buxen hinten zuknöpfen. Das ist schwierig und sieht auch albern aus.

Zu allen anderen Tageszeiten ist Vati Bredemeier ein sehr netter Mensch. Er ist fleißig und freundlich und erfinderisch und denkt auch über das Leben nach. Einmal macht er etwas falsch, und das andere Mal macht er etwas richtig, wie alle Menschen. Vati Bredemeier hat eine Frau, genannt Mutti, und beide haben den Sohn Benjamin, genannt Benni. Damit wäre die ganze Familie vorgestellt.

Früh, bevor Vati Bredemeier in die Fabrik fährt, gibt er Mutti einen Kuss auf die Wange. Dann schleicht er ins Kinderzimmer. Dort schläft Benni. Ihm gibt er einen Kuss auf die Nasenspitze. Oft seufzt er dabei neidisch. Er unterdrückt ein gewaltiges Gähnen und denkt: Ach, wenn ich jetzt mein Sohn wäre! Ich würde zwar Benjamin heißen, aber dafür könnte ich zwei Stunden länger schlafen. Das wäre eine Wonne. Auf dem Weg zur Arbeit denkt er sich eine Menge schöner Wenns aus. Wenn ich mein Sohn wäre, überlegt er, dann könnte ich von vorn beginnen und alles in der Welt erlernen — Lokomotivführer, Tierarzt, fünf Sprachen oder regieren. Heute weiß ich, dass ich mich mächtig anstrengen würde. Wer klug ist, macht weniger Fehler. Außerdem, wenn ich mein Sohn wäre, dürfte ich ein paar Sachen anstellen, die ich lustig finde, die sich ein Vati jedoch nicht leisten kann. Wenn ich zum Beispiel als Vati Bredemeier einen Drachen steigen lasse, denken die Leute, bei mir piept’s. Aber Kinder dürfen! Erwachsene sollen leider immer vernünftig handeln. Warum eigentlich? Wenn ich Benni wäre, dann würde ich gleich nach der Schule Fußball spielen oder baden gehen oder ganz blödsinnig toben und auf die wunderbare Kastanie klettern. Wenn ich mir die Hose zerreiße, kaufe ich mir einfach eine neue — ach, Unsinn, nicht ich, sondern Benni. Mein Sohn Benjamin wäre ja dann ich, also Vati Bredemeier.

Das sind reichlich verzwickte Überlegungen. Da kann es sogar passieren, dass Vati Bredemeier seine Straßenbahn verbummelt und zu spät zur Arbeit kommt. Das ist ärgerlich.

Wenn Vati Bredemeier schon in der Fabrik arbeitet, liegt sein Sohn Benjamin noch im Bett, aber meist schläft er nicht, er duselt. Duseln ist ein Spezialwort von Benni. Es heißt so viel wie mit offenen Augen träumen. Benjamin duselt und denkt: Mannomann, jetzt müsste es einen Knall geben, und ich wäre mein Vati. Dann müsste Vati in die Schule gehen und am Freitag mein Diktat schreiben. Als Vater würde ich in der Fabrik mächtig ranklotzen und massig Geld verdienen, damit Vati — nein, Benni, denn Vati wäre ja dann ich, also damit mein Sohn immer Taschengeld hat. Und einen Fußball aus Leder würde ich ihm auch kaufen, gar keine Frage. Und die Kohlen würde ich mal schön selbst aus dem Keller holen und nicht immer den armen Jungen danach schicken. Überhaupt: Erwachsene haben es gut, sie können tun, was sie wollen, Pfeife rauchen und Bier trinken und Kinder abends ins Bett schicken und selbst aufbleiben bis in die Puppen, niemand schimpft. Das ist ein feines Leben.

Sehr früh am Freitag schleicht Vati Bredemeier wie gewöhnlich ins Kinderzimmer. Er gibt Benni jedoch keinen Nasenspitzenkuss. Er seufzt nur und flüstert: „Du hast es gut, Benni!“ Benni duselt gerade. Er murmelt: „Wollen wir vielleicht tauschen?“

Vati Bredemeier kratzt sich am Kopf und überlegt. Dann flüstert er rasch: „Na gut.“

Benni antwortet: „Au, prima!“

Es gibt keinen Knall. Aber was jetzt geschieht, ist äußerst merkwürdig: Der unerhörte Tausch findet statt. Vati Bredemeier legt sich noch ein Stündchen in Bennis Bett und aalt sich, Benjamin aberzieht Vatis Hose an, steckt die Frühstücksstullen in die Tasche und fährt zur Arbeit. Niemand merkt etwas. Vielleicht hat Benni die Sache nur geduselt? Aber es ist auch möglich, dass es an Vatis langer Hose und an der Tasche mit dem Frühstück liegt. Wer weiß das? Jedenfalls sagt Benni: „Guten Morgen, Kollegen“ Und die Kollegen in der Fabrik wundern sich nicht.

Die Fabrik ist eine Formgießerei. Die Arbeit in der großen, dunklen Halle ist interessant und wichtig. Aber sie ist auch schwer, man muss sie lange üben. In gewaltigen Öfen wird Eisen oder anderes Metall geschmolzen. Erst ist es dunkelrot, dann hellrot, dann gelb, und dann strahlt es fast ebenso weiß und heiß wie die Sonne. Wer das flüssige Metall betrachten will, muss durch eine schwarze Glasscheibe blicken. Die Arbeiter an den Schmelzöfen tragen dicke Anzüge und haben silbrige Schürzen umgebunden. Das schützt ein wenig vor der sengenden Hitze. Hoch oben, unter dem Dach, bimmelt es. Ein Kran kommt mit einem Riesentopf. Das weißglühende Metall fließt aus dem Ofen in den Topf und vom Topf in eine Form aus Sand. Ein Funkenregen sprüht, es pufft und knallt. Feuerschlangen zischen gefährlich. Ein Arbeiter ruft: „Vorsicht!“ Auf seinem schweißglänzenden Gesicht spiegeln sich die Flammen. Vom Topfrand klatschen glühende Tropfen auf den sandigen Boden, da spritzen hundert knisternde Sterne durch die Halle.

Dann ist die Glut im Inneren der Form verschwunden. Man könnte denken, die Arbeiter haben sich ein Stückchen Sonne eingefangen. Langsam wird das weißglühende Metall nun in der Form erst hellrot, dann dunkelrot. Am Ende sieht es wieder aus wie Eisen. Wenn es abgekühlt und hart ist, steckt in der Form ein neuer Gegenstand. Auf diese Weise kann man zum Beispiel aus sehr vielen verrosteten Nägeln ein neues Zahnrad oder aus lauter alten Röhren einen Schleusendeckel gießen — alles, was gerade so gebraucht wird. Benjamin weiß gut Bescheid. Er hat Vati mitunter in der Fabrik besucht und sich die Gießerei genau erklären lassen. Aber zugucken ist leichter als selbst tun.

Aus Vatis Schrank im Umkleideraum holt Benni sich den Schutzhelm und eine Brille mit dunklen Gläsern. Die Brille drückt auf der Nase. Und weil es so heiß ist, schwitzt Benni nach fünf Minuten wie ein Schwergewichtsboxer in der dritten Runde. Dabei hat er noch gar nicht mit der Arbeit angefangen. Auf einem eisernen Tisch liegen schwere Metallteile. Sie wurden zusammen in einer Form gegossen, gehören aber nicht zusammen. Diese Teile muss Benni mit seinem Schweißbrenner voneinander trennen. Erst klappt es ganz gut. Benni denkt gerade: Na, das flutscht ja! In diesem Moment fällt ihm eines der abgetrennten Eisendinger auf den großen Zeh. Und zwar auf den linken. Obwohl gerade nichts gegossen wird, sprühen vor Bennis Augen helle Funken. Es schmerzt furchtbar. Und vor Schmerz hüpft er wie ein Ziegenbock quer durch die große Halle.

Ein freundlicher Arbeitskollege ruft: „Hallo, Vater Bredemeier, wohin hüpfst du denn so schnell?“

Benni setzt sich auf ein neu geformtes Zahnrad, um seinen Zeh zu betrachten. Leider ist das Rad noch nicht ganz abgekühlt. Bennis Hose beginnt sofort zu qualmen. Er springt entsetzt auf. Der freundliche Arbeitskollege klopft ihm den glimmenden Hosenboden aus.

Benni brummt: „Besten Dank, Kollege!“, und beißt die Zähne zusammen. Insgeheim denkt er, ich muss bloß üben, dann klappt es auch. Tapfer humpelt er an seinen Arbeitsplatz zurück und zündet den Schweißbrenner wieder an. Glücklicherweise ertönt in diesem Augenblick das Signal zur Frühstückspause. Benni ist sehr froh.“

Erstmals 1964 erschien im Deutschen Militärverlag Berlin „Das Mädchen Ann und der Soldat“ von Heinz Kruschel: Die Männer schauen ihr nach, der hübschen blonden Ann Plitzko. Und Ann weiß, dass sie gefällt. Da ist der junge Dornbusch, der Sohn vom Tierarzt, Konstantin Weber vom Städtischen Theater und schließlich der Ingenieur Werner Lorenz – sie alle wollen in ihrem Leben eine Rolle spielen. Doch Ann hat genug von diesen Liebeleien, die stets an der Oberfläche bleiben. Sie will nicht zu den Frauen gehören, die ihr Leben und ihr Glück auf der Jagd nach immer neuen Liebeserlebnissen vertun. Und sie braucht einen Menschen, der ihr hilft, zu sich selber zu finden, einen, der sie behutsam bei der Hand nimmt und ihr zeigt, wie schön das Leben sein kann. Sie muss mit der engen, muffigen Atmosphäre des Elternhauses brechen, mit dem Vater, der mit seinen Nörgeleien ihr und ihrer Mutter Leben vergiftet hat – sie muss einen neuen Anfang finden. Da begegnet ihr Walter Sixtus, der kluge, energische Soldat, für den es keine unlösbaren Probleme zu geben scheint, der auf alle Fragen eine Antwort findet. Ist er der Mann, der ihrem Leben Halt gibt? Jede Liebe ist ein Experiment. Vielleicht besteht eine Ehe aus hundert Experimenten. Eins wird glücken. Vorerst aber treffen wir zwei Schwimmer im Mondlicht. Richtig. Es sind das Mädchen Ann und der Soldat …

„Sie schwammen unter dem gelben Licht des Mondes am Ufer entlang und fanden die meterbreite Öffnung im Schilfgürtel. Das Glitzern war überall, doch es ließ sich nicht greifen. Sobald sie das Wasser zerteilten, schwand der helle Schleier. „Wir sind ganz schön betrunken“, rief Ann. Sie keuchte. Walter legte sich auf den Rücken und ließ sich treiben, bis sie bei ihm war. „Lass dich abschleppen“, sagte er.

Da drehte sie sich einmal, die hellen Haare ringelten sich wie Algen um ihren Kopf. Hatte sie den Einfall gehabt, auf die Euleninsel zu schwimmen, wollte sie es auch allein schaffen. Der Kanal erweiterte sich, das Wasser wurde ruhiger. Vom Nachthimmel hob sich bizarr die Euleninsel ab, starrer Sumpfwald wie aus einer vergessenen erdgeschichtlichen Formation. Walter tauchte, spürte unter sich die glitschigen, ineinander gewachsenen Wurzeln der alten Bäume und kraulte in schnellem Tempo die letzten Meter. Wollweich strich es gegen seinen Leib, hier hatte er Grund. Sie schwimmt zu tief, dachte er, irrsinnig auch, nach Mitternacht auf die Euleninsel zu wollen. Zuerst hatten alle an eine Schnapsidee geglaubt. „Wenn ihr nicht wollt, schwimme ich allein, ihr Helden!“ Die anderen würden nicht auf sie warten.

Als der helle, tanzende Fleck vor ihm war, rief er: „Vorsicht, die Krebse!“ Sie schrie nicht, wie das viele Mädchen getan hätten, sie warf sich ihm entgegen, ausgepumpt, schnell und flach atmend.„Blöde, der Sekt und der viele Kognak“, sagte sie, „in mir dreht sich alles, aber Alkohol ist eine schöne Erfindung, man vergisst schnell das, was einem vor Tagen noch wichtig war.“

Walter rieb ihren nackten, vor Kälte zitternden Rücken und sagte: „Du redest ziemlich normal.“ „Ich bin es nur nicht.“ Sie küssten sich. Ihre Lippen waren nass und warm. Er spürte ihre Zunge und wollte es ihr gleichtun, da drückte sie seinen Kopf zur Seite. „Sympathische Gegend, nicht“, sagte sie leise, „hier könnte nur das Einhorn leben. Schön, keinen Menschen in der Nähe zu wissen.“

„Bin ich keiner?“, fragte er, presste sie an sich und lachte. Es schallte über das stille

Wasser. In der Ferne versuchte jemand zu jodeln.

„Hör schon auf“, sagte sie, „das klingt ja grässlich. Natürlich bist du ein Mensch, leider. Sogar ein Soldat. Wo steckst du eigentlich? Ich habe dich vor‘n paar Tagen in der Stadt gesehen. Aber in Uniformen kenne ich mich nicht aus.“

Er sagte fröhlich, weil es ihn stolz machte, Ann in seinen Armen zu halten, schließlich hatte er nur einmal mit ihr auf dem Abiball tanzen können: „Bei der Flak, Melusine, bei der schweren, da kann auch ein Einhorn nichts machen.“

Sie stand auf und strich das Wasser aus dem Haar. Er berührte ihre Hüften und Schenkel. Sie waren glatt und kühl. „Ann.“

Sie bewegte sich nicht und sagte leichthin und von oben herab: „Kommt jetzt der übliche Schmus? Ich liebe dich, ach Gott. Lass dir doch was anderes einfallen. Liebe ist eine Erfindung der Alten. Die Insel, der Mond, ein Mädchen, was? Und schon steckte der Soldat eine neue Eroberung in die Brusttasche seines Ehrenkleides, papipapo … Eine Zigarette könnte ich jetzt rauchen.“

„In diesem Anzug habe ich keine Taschen“, sagte er, Unsicherheit in der Stimme und bemüht, auf ihren Ton einzugehen. So hatte sich noch kein Mädchen bei ihm verhalten.

„Dann wärme mich, es ist kalt.“

„Wollen wir zurück?“

„Willst du?“

„Nein, aber wenn du denkst, dass ich …“

„Schon gut, sei nur nicht gleich beleidigt.“ Sie küsste ihn. Seltsames Mädchen, dachte Walter. Um aus der klug zu werden, muss man Psychologie studieren. Vielleicht ist ihr Typ auch nicht zu analysieren. Auf dem Abiturientenball hatte er sie an der kleinen Bar kennengelernt. Die Älteren – er hatte vor fünf Jahren sein Abi gebaut – saßen hier auf ihren Stammplätzen, tranken Kognak mit Selters und erzählten alte Geschichten, die sie schon so oft gehört hatten. („Weißt du noch, wie wir das Thema für Bio erfahren haben?, Was eine Frau pflegen muss, um den Männern zu gefallen.‘ Als er das verraten hatte, tippten wir alle richtig: die Haut!“)

Im Saal wurde ein Twist wiederholt, dann drängten in der Pause die verschwitzten, frischgebackenen Abiturienten aus der Aulatür. Ein schlanker, dunkler Junge mit hochmütigem Gesicht verschaffte sich Platz an der Bar. „Tanzt doch mal, ihr Verflossenen dieser Anstalt, ’nen langweiligen Tango könnt ihr wohl noch!“ Die Blonde neben ihm lachte.

Sie trug ein weißes ärmelloses Kleid und hatte langes, gepflegtes Haar. Der Dunkle bestellte Sekt und erzählte. „Ausgerechnet mich haben sie in der Prüfung mit den lauten Trompetern einer alten Revolution gequält. Einheit auf Reinheit, Nacht auf Schlacht und Hämmer auf Schlemmer. Freiligrath und Herwegh, Losungen und transparente Propaganda. Ich habe zwei Gedichte hingeschmettert wie ein Jahrmarktsrufer und dann die Beziehung zur Gegenwart gesucht und gefunden. Und mit Heines Stellung zum Kommunismus brilliert, Vorwort zur Lutetia, in Deutsch eine glatte EINS. Ich sei sehr ausdrucksstark und parteilich gewesen, sagte der Marabu …“

„Ausgerechnet du“, meinte das Mädchen spöttisch. Sie sah Walter an. „Wir haben uns doch schon einmal gesehen …“

„Leider nein“, sagte Walter, „dann würde ich Sie nämlich unterhalten. Sekt und Prüfungsgequatsche. Ist der Knabe immer so zackig?“

„Er verträgt nichts, aber er hat’s. Sohn vom Tierarzt.“

Der Dunkle beugte sich vor. „Natürlich, Ann, den kennen wir. Sozialistisches Leitideal, hängt gegenüber unserer Klasse an der Wand. Walter Sixtus, Abitur mit Auszeichnung und Lessingmedaille, kann studieren mit Freibrief, wo er will und was er will …“ Er trank noch einen Schluck, seine Augen bekamen einen glasigen Schimmer.

Walter sagte zu dem HO-Fräulein: „Dem Kleinen hier nichts mehr, auch wenn er’s Doppelte zahlt.“ Und zu dem blonden Mädchen: „Darf ich bitten?“

„Moment.“ Sie zog ihre Lippen nach: tiefrot, glänzend. Der Arztsohn stützte sich schwer auf die Tischkante. Der Rausch radierte ihm den Hochmut aus dem Gesicht. Er sah aus wie ein kleiner, vergnatzter Junge. „Fallt freudig, wie ich euch ein Beispiel gebe“, lallte er.

Ein letzter Tanz über eine halbe Stunde. Die vier Jungen von der Kapelle hatten schweißnasse Gesichter und spielten nur noch laut. Ann tanzte zauberhaft leicht. Die Lehrerfrauen sahen ihr mit freundlich-verschlossenen Mienen nach und nippten am Wein, das Schlagzeug hämmerte, das Mädchen hielt die Augen geschlossen.

Länger als bis Mitternacht wurde nie in dieser Schule gefeiert, das war Gesetz. Pünktlich riss der Hausmeister die breiten Flügelfenster auf und drehte auf der Bühne das Licht ab. Die Musiker-Jungs tranken noch zwei Flaschen Bier, die sie hinter der Orgel versteckt hatten. Auf dem Schulhof knatterte es. Autos und Motorräder fuhren in die silbrig blaue Nacht.“

Warten wir ab, wie es weitergeht mit Ann und Walter, was und wer noch dazwischenkommt und wie sie es meistern – ihr Leben, vielleicht ihr gemeinsames Leben. Und ob also das Experiment Liebe glückt …

Viel Spaß beim Lesen, viel Erfolg bei der Suche nach Kater „Beppo“ und bis demnächst.

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