Wenn der Vater fehlt – Buch des Monats II Dezember 2018

Heute lassen sich aus entwicklungspsychologischer Sicht  mindestens drei Entwicklungsschritte beschreiben, bei denen die Präsenz eines fürsorglichen und empathischen Vaters für die Entwicklung des Kindes von großer Bedeutung ist. Direkt nach der Geburt und im ersten Lebensjahr kann der Vater die Mutter dabei unterstützen, dem Säugling eine sichere Bindung und ein stabiles Urvertrauen zu vermitteln, indem er die Mutter »bemuttert«. Dies gelingt ihm dann besonders gut, wenn er sich mit den zwischen Mutter und Säugling wechselseitig ablaufenden affektgesteuerten Abstimmungszyklen und den dahinter stehenden Spiegelungsbedürfnissen von Baby und Mutter in positiv beteiligter Weise identifizieren kann, ohne sich ausgeschlossen zu fühlen. So kann der Vater bereits sehr früh dazu beitragen, dass der Säugling Abhängigkeitsbeziehungen nicht als bedrohlich verinnerlichen muss. Wenn er sich jedoch durch die auf das Erleben des Säuglings zentrierte Mutter abgewiesen oder gar entwertet fühlt, wenn er das Kind zum Beispiel unbewusst als Rivalen erlebt oder kindlich eifersüchtig auf die Bindung und Zuwendung der Mutter zum Baby reagiert, wird es dieser schwerer fallen, eine entspannte, auf das Erleben des Kindes zentrierte Wahrnehmungs- und Einfühlungsfähigkeit zu entwickeln. Darüber hinaus wird der Vater schon sehr früh und bereits vom Säugling als von der Mutter unabhängige und besondere Person wahrgenommen, auf die sich auch die Achtmonatsangst nicht erstreckt.

Unterstützung für die Selbständigkeit des Kindes

In empirischen Untersuchungen ließ sich belegen, dass Väter von Anfang an einen von Müttern graduell unterschiedlichen Interaktionsstil mit ihren Kindern realisieren. Sie betonen eher motorisch-impulsive und stimulativ-explorative Aspekte in ihrer Beziehung zum Kind, während in der Beziehungsgestaltung der Mutter eher körperliche Nähe und feinfühlige Zentrierung auf affektive Prozesse wichtig sind (Russel u. Saebel, 1997). Außerdem unterscheiden sie in ihrem Spielverhalten bereits im Säuglingsalter stärker zwischen Töchtern und Söhnen als Mütter.

Diese separativen und distinktiven (Seiffge-Krenke, 2016) Funktionen des Vaters unterstützen die dann folgende Entwicklung der Selbständigkeit des Kindes, wenn es im Alter von ein bis zwei Jahren beginnt, sich aus der engen frühen Mutterbeziehung zu lösen. Die durch die Reifung der körperlichen Funktionen und mentalen Fähigkeiten zwangsläufig verstärkten Trennungsbestrebungen und die in diesem Zusammenhang ebenfalls auftretende heftige Trennungsangst und Enttäuschungswut des Kindes kann der Vater moderieren und mildern, wenn er sich ihm als tragfähige Beziehungsalternative vermittelt, innerhalb welcher das Kind seine Selbstständigkeit weiter in die Umwelt

hinein entwickeln kann. Der Vater kann dem Kind gewissermaßen demonstrieren, dass es möglich ist die Mutter sowohl zu lieben, das heißt abhängig von ihr zu sein, als auch sich angstfrei von ihr zu trennen, also auch unabhängig von ihr zu sein. Er kann dem Kind die Außenwelt als einen Kosmos vielfältiger Beziehungsmöglichkeiten erschließen und so den Erfahrungshorizont des Kindes anregend und ermutigend erweitern. Diese Phase der »Triangulierung« bewirkt bei dem Kind einen weiteren Rückgang archaischer Phantasien und Ängste und trägt zu einer Reifung einer realitätsgerechteren Affekt- und Aggressionsverarbeitung bei. In der familiären Wirklichkeit ist der

Vater hochwillkommen, wenn er der Mutter, die in der Wiederannäherungskrise gegen Ende des zweiten Lebensjahres vielleicht auch manchmal von den ambivalenten Affektstürmen des Kleinkindes überfordert ist, das Kind entlastend »abnehmen« kann und mit ihm explorativ die Dinge übt, die ihm noch nicht in der erträumten Perfektion gelingen können.

Prägende Bedeutung für die sexuelle Identität

Schließlich kann der Vater in den späteren Entwicklungsstadien des Kindes im Alter zwischen etwa drei bis sechs Jahren die Entwicklung und Konsolidierung der Geschlechtsidentität nachhaltig fördern. Bei der Bewältigung dieses Reifungsschrittes ist der Vater als emotional präsente männliche Identifikationsfigur und als Liebespartner der Mutter für die Entwicklung einer stabilen selbstbewussten sexuellen Identität des Kindes von prägender Bedeutung. Insofern ist die Präsenz eines emotional verfügbaren Vaters für Jungen in dieser Phase von besonderer Wichtigkeit. Auch eine noch so einfühlsame mütterliche Bezugsperson kann einem heranwachsenden Jungen nur begrenzt

vermitteln, wie es sich eines Tages anfühlen könnte, ein auch sexuell selbstbewusster und beziehungsfähiger Mann zu sein. Sie kann ihn aber dabei unterstützen, wenn sie seinen Vater liebt oder in ihrem Inneren über ein positives Bild ihres eigenen Vaters verfügt. Ein positiv besetztes Bild von Männlichkeit im Inneren seiner Mutter kann der Junge intuitiv als identifikatorische Ressource erspüren und nutzen.

Aber auch für die Entwicklung und Festigung der sexuellen Identität des Mädchens ist in dieser – von Sigmund Freud als ödipale Phase bezeichneten – Entwicklungsstufe der spielerischen Erprobung weiblicher Kompetenzen die Begleitung und Wertschätzung durch den Vater sehr wichtig. Die Fähigkeit des Vaters auf die werbend  erprobenden Rollenspiele seiner Tochter kindgerecht – unter sicherer

Einhaltung der Inzestschranke – einzugehen, ist von großer Bedeutung für die Festigung der weiblichen Identität der Tochter. Entsprechend dramatisch und verheerend sind die oft lebenslang wirksamen Folgen sexueller Übergriffe für Mädchen – wie auch für Jungen.

Insgesamt wirkt sich ein intensives väterliches Engagement von Anfang an positiv auf emotionale, soziale und kognitive Kompetenzen des Kindes wie auch auf dessen Empathie, den späteren Schulerfolg und auf die Verinnerlichung moralischer Standards aus. Das bei konflikthafter elterlicher Trennung frühe Fehlen des Vaters ist hingegen ein Risikofaktor für die kindliche Entwicklung (Fthenakis, 1999; Sarkadi et al., 2008; Franz, 2010; Seiffge-Krenke, 2016).

Das Problem der Alleinerziehenden

Da Einelternfamilien im Gegensatz zu Ehen mit Kindern eine in Deutschland seit Jahrzehnten kontinuierlich wachsende Familienform

darstellen, haben die geschilderten Zusammenhänge weitreichende, über Jahrzehnte nachwirkende gesellschaftliche Auswirkungen (Franz, 2012). Der Anteil Alleinerziehender an allen Familien mit minderjährigen Kindern ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich angestiegen und liegt in Deutschland mittlerweile bei 19,8 %, das entspricht über 1,6 Millionen Alleinerziehenden mit Kind(ern) unter 18 Jahren (Statistisches

Bundesamt, 2017). Mehr als jedes sechste minderjährige Kind (2,3 Millionen) wächst bei nur einem Elternteil auf (Statistisches Bundesamt, 2017), in neun von zehn Fällen bei der Mutter, wobei in Ostdeutschland inzwischen fast jedes vierte Kind bei einem alleinerziehenden Elternteil lebt, in Westdeutschland fast jedes sechste (Statistisches Bundesamt, 2017). Zahlreiche nationale und internationale Studien belegen seit

langem konstant eine ökonomische (Franz et al., 2003; Lenze, 2016) und gesundheitliche (Ringbäck Weitoft et al., 2003; Calmbach et al., 2014) Benachteiligung Alleinerziehender sowie eine überdurchschnittlich hohe psychosoziale Belastung. Dies konnte an einer großen deutschen Stichprobe bereits im Rahmen der Düsseldorfer Alleinerziehendenstudie nachgewiesen werden (Franz et al., 2003). Darüber hinaus sind alleinerziehende Mütter im Vergleich zu Müttern in Paarfamilien häufiger durch weitere Faktoren wie Vollzeitarbeit, Zukunftsängste, Einsamkeit, die partnerschaftliche Konfliktsituation sowie damit verbundenen Schuldgefühle und die alleinige Verantwortung im Alltag belastet (Helfferich et al., 2003).

Vaterlosigkeit und Vaterentbehrung können über Jahrzehnte hinweg einen negativen Einfluss auf die Gesundheit und Entwicklung der betroffenen Kinder entfalten. …. Der erfolgte empirische Nachweis erhöhter Gesundheitsrisiken heutiger alleinerziehender Mütter und der mitbetroffenen Trennungskinder im Rahmen der Düsseldorfer Alleinerziehendenstudie führte zur Entwicklung einer Intervention im Rahmen eines vom BMBF geförderten Forschungsprogramms zur Prävention (Walter et al., 2015).

Erfolgreiches Präventionsprogramm wir2

…. Mit dieser Zielsetzung wurde das wir2 Bindungstraining entwickelt und als Manual veröffentlicht (Franz, 2014). wir2 (www.wir2-bindungstraining.de) ist ein bindungsorientiertes, emotionszentriertes Gruppenprogramm für psychosozial belastete alleinerziehende Mütter – und Väter. Das Programm fokussiert auf eine Reduktion der elterlichen psychischen Belastung und Depressivität sowie auf eine Verbesserung der – durch depressive Symptome oft beeinträchtigten – Sensibilität für kindliche Affektsignale und die dahinter stehenden kindliche Bedürfnisse. wir2 zielt auf der Grundlage eines bindungstheoretisch fundierten Ansatzes in einem emotionszentrierten Programm also nicht nur darauf ab, die häufig bestehende Depressivität vieler alleinerziehender Eltern zu mildern und Änderungen im Umgang mit Belastungen zu ermöglichen. Vielmehr geht es bei wir2 auch darum die emotionalen und elterlichen Kompetenzen Alleinerziehender zu stärken, hierdurch die Eltern-Kind-Bindung abzusichern und damit auch kindliche Beeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten zu verringern. Dabei kommt auch der Trennung des Paarkonfliktes von der gemeinsamen Elternverantwortung eine große Bedeutung zu.

Die nachhaltige Wirksamkeit des wir2 Bindungstrainings auf mütterliche und kindliche Belastungskennwerte wurde in einer randomisierten, kontrollierten Interventionsstudie nachgewiesen. Aufgrund der positiven Ergebnisse und seiner methodisch anspruchsvollen Evaluation wurde das wir2-Programm 2010 mit dem renommierten Heigl-Preis ausgezeichnet und in die höchste Evidenzkategorie der »Grünen Liste Prävention« des Landespräventionsrats Niedersachsen (www.gruene-liste-praevention.de) eingestuft. wir2-Gruppen werden mittlerweile bundesweit angeboten. Das wir2 Bindungstraining erfüllt wichtige Qualitätskriterien psychosozialer Intervention. Die Qualität des Programms wird durch fortlaufende Evaluation sichergestellt.

Die Entwicklung und Implementierung solch wirksamer, qualitätsgesicherter präventiver Angebote für gesundheitlich besonders belastete und benachteiligte Bevölkerungsgruppen und insbesondere von vaterlosen Trennungsfamilien stellt angesichts schwerwiegender transgenerational und psychosozial vermittelter Gesundheitsrisiken (Brown et al., 2009; Cierpka et al., 2011) eine gesamtgesellschaftlich und versorgungspolitisch zu erbringende Notwendigkeit dar, die sich im Übrigen auch volkswirtschaftlich auszahlt (Heckman et al., 2010).

Matthias Franz, Wenn der Vater fehlt, aus: Ohne Familie ist kein Staat zu machen, herausgegeben von Karl-Heinz B. van Lier, Herder, Freiburg, 2018, 539 Seiten, hier 450-453 und 456 ff. Die Zwischentitel sind von der Redaktion.

Professor Matthias Franz  ist Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychosomatische Medizin. Er ist Universitätsprofessor für Psychosomatische

Medizin und Psychotherapie sowie als stellv. Direktor am Klinischen Institut für psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Düsseldorf tätig. Professor Franz ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des iDAF.

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