Wie Gewerkschaften neue Mitglieder gewinnen

Über politische Macht, finanzielle Kraft und gesellschaftliche Legitimation vieler Organisationen entscheidet die Zahl ihrer Mitglieder. Anhaltender und nachhaltiger Mitgliederrückgang schränken ihre Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit ein, Macht und Einfluss sinken, Vertrauen geht verloren, Legitimation schwindet. Imageverlust oder Profilschwäche als Folgen wirken sich negativ auf die Attraktivität der Organisation aus, minimieren die Chancen auf eine Trendwende in der Mitgliederentwicklung. Viele Organisationen, die auf das Engagement und die Aktivitäten ihrer Mitglieder angewiesen sind, klagen seit Jahren über Mitgliederrückgang und Probleme bei der Aktivierung und Rekrutierung neuer Mitglieder. Das trifft u.a. auf Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften oder Wohlfahrtsverbände zu. Fragt man nach erfolgreichen Versuchen, sich gegen diesen allgemeinen Trend zu stemmen, fällt der Blick fast zwangsläufig auf die IG Metall.

IG Metall: Mitgliederrückgang gestoppt und Trendwende geschafft


2018 sind der IG Metall 133.165 Mitglieder neu beigetreten. Mit fast 2,3 Mio. Mitgliedern ist sie die größte DGB-Gewerkschaft. Sie hat über eine Million mehr Mitglieder als alle sieben Parteien zusammen, die momentan im Deutschen Bundestag die Bevölkerung repräsentieren. Einige ihrer lokalen Geschäftsstellen in wichtigen Industriezentren (mit großen Dienstleistungsbereichen) haben alleine vor Ort mehr Mitglieder als mittelgroße Parteien wie Grüne, FDP oder Linkspartei bundesweit. Gegen den Trend eines schleichenden Mitgliederrückgangs mit einem drohenden Verlust von Gestaltungskraft anzukämpfen, seine Mitglieder zu halten und zu aktivieren sowie neue Mitglieder zu gewinnen, ist keine einfache Aufgabe, sondern ein schwieriges Unterfangen, das neue Strategien erfordert und mit einer großen Kraftanstrengung verbunden ist.

„Früher waren es die Betriebsräte, gute Tarifverträge, stabile soziale Milieus und die `Vererbung` von Mitgliedschaften“, sagt Prof. Wolfgang Schroeder, „die dazu beitrugen, dass Gewerkschaften über hinreichend viele Mitglieder verfügten. Heute reicht dies nicht mehr. Gewerkschaften brauchen eine eigenständige, professionelle und systematische Mitgliederpolitik“, betont der Kasseler Sozialwissenschaftler, der mit seinem Team in einer methodisch breit aufgestellten Pionierarbeit die Rekrutierungs- und Aktivierungsarbeit der Gewerkschaften am Beispiel der IG Metall analysiert hat.

Gefragt wird, wie die Gewerkschaften unter veränderten Bedingungen in den Betrieben, auf den Arbeitsmärkten, in der Gesellschaft und gegenüber der Politik wieder stärker handlungsfähig werden können. Eine zentrale Antwort sehen die Wissenschaftler in den Erschließungsprojekten, mit denen neue Wege gewagt werden. Schroeder: „Eine Organisation, die jährlich mehr als 100.000 neue Mitglieder rekrutieren muss, um nicht ins Minus zu rutschen, kann eigentlich nichts dem Zufall überlassen. Notwendig ist deshalb eine systematische Mitgliederpolitik“. Die Studie präsentiert zu diesem Anspruch und Ziel die maßgeblichen Konzepte, analysiert den inneren Prozess der Umsetzung und leuchtet erste Erfahrungen aus den Erschließungsprojekten aus. Gewerkschaftskenner Wolfgang Schroeder spitzt mit den Erkenntnissen seiner Untersuchung zu: „Egal wie man es dreht und wendet, Mitgliederpolitik muss in einer so großen Organisation wie den Gewerkschaften ein eigenes Politikfeld sein. Ignoriert man diese Einsicht, so verschenkt man viele Möglichkeiten zur Rekrutierung, Bindung und Aktivierung von Mitgliedern.“

Für die Otto Brenner Stiftung, die die Studie veröffentlicht hat, stellt ihr Geschäftsführer Jupp Legrand fest: „Das wichtigste Kapital der Gewerkschaften sind ihre Mitglieder. Diese zu rekrutieren, zu halten und zu aktivieren bleibt im Zeitalter inszenierter Singularitäten die große Herausforderung.“ Mit der Studie, so Legrand weiter, „liegen jetzt erste positive Zwischenergebnisse aus den Projekten vor, die bei der Weiterentwicklung der Gewerkschaften zu attraktiven Mitgliederorganisationen wichtige Impulse geben.“

Die OBS verbindet mit der Publikation aber auch die Hoffnung, dass die Ergebnisse der Untersuchung bei weiteren Organisationen der Zivilgesellschaft auf Interesse stoßen und dazu anregen, nachhaltige Konzepte aktiver Mitgliedergewinnung zu entwickeln und zu profilieren.

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