Studie macht Reformvorschläge

Die Europäischen Fiskalregeln müssen nach fast 30 Jahren reformiert werden – das wäre auch ohne Corona-Krise so gewesen. Die Europäische Kommission berät seit Anfang des Jahres, wie das Regelwerk überarbeitet werden sollte. Die strengen, recht schematischen und trotzdem unübersichtlichen Ausgaben- und Schuldenregeln passen nicht mehr zu veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, sie haben schon in den vergangenen Jahren dringend nötige Investitionen in den Ländern der Eurozone gebremst. Doch durch die Pandemie und die hohen staatlichen Ausgaben, die zur Bewältigung ihrer wirtschaftlichen Folgen notwendig sind, hat sich der Reformdruck noch einmal extrem erhöht, analysieren Experten des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans Böckler-Stiftung. In der akuten Krise täten viele europäische Staaten nach Aktivierung der Ausnahmeklausel in den Fiskalregeln durch die EU-Kommission das Richtige, so das IMK: Sie geben viel Geld für Antikrisenprogramme aus und nehmen dafür deutlich höhere Schuldenquoten in Kauf. Unterstützung kommt dabei von der EU-Ebene: Die EZB hat mit dem PEPP-Programm die quantitative Lockerung aufgestockt. Zugang zu günstigen Krediten wurde mit einem Programm zur Unterstützung nationaler Kurzarbeitsmaßnahmen und einer neuen Kreditlinie im ESM gesichert. Die Kommission hat zuletzt einen Wiederaufbaufonds mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro vorgeschlagen; allerdings steht die Zustimmung des Rats noch aus. Um aber nach dem Ende des Corona-Ausnahmezustands, wenn die normalen Regeln wieder greifen, nicht auf einen harten Sparkurs mit gravierenden Folgen für Wachstum und Beschäftigung einschwenken zu müssen, bräuchten die EU und ihre Mitgliedsstaaten rasch eine Reform der Fiskalregeln. Und zwar eine, „die unter Berücksichtigung der Nachhaltigkeit der öffentlichen Schulden vor allem die kurzfristige Stabilisierung der Makroökonomie und die langfristige Modernisierung des öffentlichen Kapitalstocks […]fördert“, schreiben die Ökonomen in einer neuen Studie.*

Ohne entsprechende Korrekturen sehen die Autoren Prof. Dr. Sebastian Dullien, Christoph Paetz, Dr. Andrew Watt und PD Dr. Sebastian Watzka schwarz für die Währungsunion: „Angesichts zunehmender europakritischer Tendenzen beispielsweise in Italien könnte der Euroraum eine erneute Austeritätsphase möglicherweise nicht überstehen.“ Daher empfehlen sie erstens eine „Goldene Regel“, die es ermöglicht, öffentliche Investitionen über Kredite zu finanzieren. Zweitens sollten sich nicht-investive, konjunkturunabhängige öffentliche Ausgaben entlang eines Ausgabenpfades entwickeln, der durch die Summe zweier Faktoren begrenzt wird: dem mittelfristigen Wachstum des realen Produktionspotenzials und der Zielinflationsrate der Europäischen Zentralbank (EZB). Drittens plädieren die Forscher dafür, die zulässige Schuldenquote von 60 auf 90 Prozent zu erhöhen. Denn im Vergleich zu den 1990er Jahren sind Staatsschulden durch die dauerhaft niedrigen Zinsen deutlich leichter tragbar. Viertens sollte das Verfahren zur Begrenzung von makroökonomischen Ungleichgewichten, insbesondere Defiziten und Überschüssen in den nationalen Leistungsbilanzen, symmetrisch ausgerichtet und methodisch verschlankt werden. Als wichtiges Gremium für eine bessere Koordination und Umsetzung einer regelkonformen Wirtschaftspolitik sehen die Forscher schließlich einen deutlich verstärkten „Makroökonomischen Dialog“, bei dem neben EU-Kommission, nationalen Regierungen und EZB auch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände vertreten sein sollten.

– Bisherige Fiskalregeln verschärfen Schwächephasen –

Die bestehenden Regeln, die unter anderem die Staatsschulden auf 60 Prozent und das Budgetdefizit auf 3 Prozent des BIP begrenzen, hätten weder bedenkliche Schuldenniveaus in einigen Ländern verhindert noch angemessene wirtschaftspolitische Steuerung ermöglicht, heißt es in der IMK-Studie. Eigentlich sei es Aufgabe der Politik, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu stabilisieren und so konjunkturelle Schwankungen auszugleichen. Stattdessen habe das EU-Regelwerk Staaten gezwungen, in Phasen wirtschaftlicher Schwäche zu sparen. Die Forscher belegen das, indem sie die Finanzpolitik in elf Euroländern zwischen 1985 und 2015 statistisch analysieren. Das Ergebnis: Die Fiskalregeln haben das Problem einer „weitgehend prozyklischen Politik“ verschärft.

Ein weiteres Manko stellt laut IMK die fehlende Differenzierung zwischen laufenden Ausgaben und öffentlichen Investitionen dar, die für die langfristige gesamtwirtschaftliche Entwicklung eine wichtige Rolle spielen. Die Folge: Die Investitionen geraten gerade in Krisen unter Druck, da Regierungen sie kurzfristig und ohne großen politischen Gegenwind kappen können. In Europa sei dieses Phänomen gut zu beobachten, so die Wissenschaftler. Der öffentliche Kapitalstock von Deutschland und Frankreich etwa stagniere seit Jahren.

Um diese Mängel zu korrigieren, empfehlen die IMK-Experten zum einen, die geltende Defizitgrenze durch eine Ausgabenregel zu ersetzen, die das Wachstum der konjunkturunabhängigen, nicht-investiven Staatsausgaben begrenzt, sobald der Schuldenstand eine gewisse Grenze überschreitet. Wie breit dieser Ausgabenpfad sein darf, errechnet sich aus dem mittelfristigen Wachstum des realen Produktionspotenzials einer Volkswirtschaft plus der Zielinflationsrate der Europäischen Zentralbank (EZB) von knapp zwei Prozent. Der Vorteil dieser Definition: Auch wenn die Steuereinnahmen wegbrechen oder boomen, steigen die Ausgaben immer noch stetig an, sodass die Wirtschaft stabilisiert wird. Für schwere Notlagen seien Ausnahmeregeln ratsam, die temporär höhere Ausgaben erlauben. Auch für Staaten, deren Schuldenstand unter der 90-Prozent-Marke liege oder die hohe Überschüsse im Budget vor Betrachtung der Zinsausgaben hätten, sollten die Regeln lockerer gehandhabt werden.

– Goldene Regel für Investitionen hätte schon in der Vergangenheit Wachstum gestärkt –

Für Investitionen sollte der Studie zufolge die sogenannte Goldene Regel gelten. Sie besagt, dass öffentliche Investitionen über Kredite finanziert werden können. Die Begründung: Auch künftige Generationen profitieren von einer Erhöhung des Kapitalstocks, deshalb können und sollen sie auch an der Finanzierung beteiligt werden. Berechnungen des IMK zeigen, dass die Eurozone in den vergangenen Jahren mit einer solchen Regel wesentlich besser gefahren wäre. Laut einer Simulation für die Zeit von 2011 bis 2017 hätten Deutschland und Frankreich gut zwölf Milliarden Euro mehr pro Quartal investiert, Spanien acht, Italien neun Milliarden Euro. Dadurch wäre das BIP im Euroraum knapp 1,8 Prozent höher ausgefallen, die Arbeitslosenquote im Schnitt einen halben Prozentpunkt niedriger.

– Zinsniveau und Schuldenquote: Dauerhaft mehr Spielraum –

Als einen weiteren Reformbaustein nennen die Ökonomen eine neue Obergrenze für die Schuldenquote. Wie tragfähig Staatsschulden sind, hänge unter anderem vom Realzins und dem realen Wachstum des BIP ab – je niedriger der Zins und je kräftiger das Wirtschaftswachstum, desto höher können Regierungen sich verschulden. Zur Zeit des Maastricht-Vertrags Anfang der 1990er Jahre habe der Zins im Euroraum preisbereinigt noch über der Wachstumsrate gelegen, inzwischen sei es umgekehrt. Wenn man ausgeht von einem Budgetdefizit von drei Prozent des BIP, einer Inflationsrate, die dem EZB-Zielwert entspricht, und einer realen Wachstumsrate von einem Prozent, dann wäre nach Berechnung der IMK-Forscher eine Schuldenquote von 100 Prozent verkraftbar. Inklusive eines „Sicherheitspuffers für unvorhergesehene Krisen“ schlagen sie eine Obergrenze von 90 Prozent des BIP vor.

Auch auf das Verfahren zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte geht das IMK-Papier ein. Bisher seien die entsprechenden Bemühungen „eher erfolglos“ geblieben. Der Grund: Die Regeln seien zum Teil übermäßig komplex und intransparent und wenig bindend. Die Forscher plädieren dafür, die Liste der verwendeten Indikatoren zu verkürzen auf den Leistungsbilanzsaldo, das Wachstum der Lohnstückkosten und die Preisentwicklung. Andere bislang herangezogene Größen wie die Arbeitslosenquote oder die Verbindlichkeiten des Finanzsektors sollten, wenn überhaupt, nur noch als Interpretationshilfen dienen. Statt wie bisher Leistungsbilanzüberschüsse von sechs Prozent und Defizite von vier Prozent zu erlauben, sollte für beide Größen – symmetrisch – ein Grenzwert von drei Prozent angestrebt werden. Für das Wachstum der Lohnstückkosten brauche es statt wie bisher nur eine Obergrenze künftig auch eine Untergrenze. Hier erscheine ein Korridor zwischen einem und drei Prozent im jährlichen Durchschnitt angemessen.

Dass die Vorgaben gegen makroökonomische Ungleichgewichte bislang wenig beachtet wurden, liegt nach Analyse des IMK auch daran, dass sie sich an zahlreiche Adressaten richten. Für die Lohnstückkosten beispielsweise seien einerseits die Sozialpartner verantwortlich, andererseits der Staat, indem er Mindestlöhne erlässt oder Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt. Die Akteure der Wirtschaftspolitik agierten interdependent: Die Preisentwicklung sei die Domäne der Geldpolitik, werde indirekt aber auch durch die Lohnsetzung und die Fiskalpolitik beeinflusst.

Um Ungleichgewichte wirksam zu bekämpfen, sei ein konsistentes Zusammenwirken der verschiedenen Akteure unerlässlich und zwar sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene. Die IMK-Forscher empfehlen daher, den Makroökonomischen Dialog der EU zu stärken und auszuweiten, der seit 20 Jahren Vertreter von Geld-, Fiskal- und Lohnpolitik auf EU-Ebene zusammenbringt. Eine solche Institution brauche es auch für den Euroraum, mit den Finanzministern, der EZB-Präsidentin, Vertretern der EU-Kommission, der europäischen Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände als Mitgliedern, sowie auch in jedem Mitgliedsland mit den entsprechenden nationalen Akteuren.

* Sebastian Dullien, Christoph Paetz, Andrew Watt, Sebastian Watzka: Vorschläge zur Reform der europäischen Fiskalregeln und Economic Governance, IMK-Report Nr. 159, Juni 2020. Download: https://www.boeckler.de/…

The IMK Report in English: https://www.boeckler.de/…

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