Ergotherapie-Kongress 2025: Herausforderungen als Chance sehen

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Dienstag, Mai 20, 2025
Auf der Bühne: Stephanie Knagge, Ergotherapeutin, und eine ihrer Klient:innen, die als „Frontfrau“ ihrer fünfzehn Persönlichkeitsanteile auftritt. Die Klientin hat eine dissoziative Identitätsstörung. Eine Störung, die man auch als Multiple Persönlichkeit bezeichnet und die sich aufgrund früher massiver Traumata entwickeln kann. Wie sich das äußert? In bestimmten, für die Betroffenen extrem stressigen Situationen versteckt sich die Frontfrau oder der Frontmann, es treten andere, „schlummernde“ Anteile oder Persönlichkeiten in den Vordergrund und übernehmen „die Regie“, was nicht nur einen Kontroll-, sondern auch einen Erinnerungsverlust bedeutet: Die Hauptperson kann sich hinterher nicht mehr an diese Situationen erinnern. Die Schilderungen der Klientin beim Kongress zum eigenen Umgang mit dem Erlebten und dem Störungsbild, aber auch die Ohnmacht der meisten Außenstehenden, berührten die Anwesenden sehr und ließen keine:n kalt. Nach dem Motto: Das Beste kommt zum Schluss war die Take-Home Message der Klientin: „Ergotherapie ist der größte Gewinn meines Lebens“. So viel Wertschätzung, aber auch der Mut sowohl der behandelnden Ergotherapeutin als auch ihrer Klientin, sich diesem herausfordernden und oft überfordernden Krankheitsbild zu stellen, waren den Zuhörer:innen Standing Ovations wert – es gab donnernden Applaus im Stehen!
Das Pausenextra zum Kongress
Zutiefst beeindruckt nutzten die Besucher:innen die anschließende Pause, um das Gehörte sacken zu lassen oder sich dazu auszutauschen. Denn auch das ist ein zentraler Aspekt des Kongresses: Er bildet eine Plattform zur Kontaktpflege und -aufnahme. Zwischen den Vorträgen, Workshops und weiteren Kongressformaten ist ausreichend Zeit, um andere Ergotherapeut:innen zu treffen, Gehörtes, Gesehenes, Erlebtes zu teilen, sich zu vernetzen. Doch die Pausen beim Ergotherapie Kongress bieten mehr. Die Macher:innen des Kongresses hatten sich dieses Jahr einen Zusatznutzen ausgedacht: Ehrenamtlich aktive Mitglieder aus den verschiedenen Gremien und Ausschüssen des Verbands suchten und verstärkten ebenso wie der Vorstand durch ihre Anwesenheit am DVE Stand während aller Pausen – und auch zwischendurch – den direkten Kontakt zu ihren Berufskolleg:innen. Ihre Aufgabe: Rede und Antwort stehen, diskutieren und Input zum aktuellen Geschehen und laufenden Projekten aufnehmen. Als „Meet and greet“ gekennzeichnet, setzte sich dieser Ansatz in etlichen Vorträgen und selbstverständlich beim „Kaffee mit dem Vorstand“ fort.
Keine Geheimsache für Ergotherapeut:innen
Es gibt sie noch immer: Tabuthemen. Etliche Vorträge und Workshops befassten sich mit der Vielzahl psychisch bedingter Erkrankungen und Menschen, die körperliche oder seelische Gewalt erfahren. Diese Menschen hüllen sich lieber in Schweigen, als nach Hilfe zu fragen. Kinder und Jugendliche würden es vielleicht, können es jedoch nicht für sich selbst tun: sie sind auf verantwortungsvolle Erwachsene und deren Hilfe angewiesen, es gilt einzuschreiten! Beispielsweise bei Kindswohlgefährdung Genauso verhält es sich mit der erschreckend hohen und weiter zunehmenden Zahl von Kindern und Jugendlichen, die aufgrund der erlebten und aktuellen Krisen Gefahr laufen, sogar langfristig eine Depression oder andere Einbußen ihrer mentalen Gesundheit zu entwickeln. Sie benötigen – so der ergotherapeutische Vorschlag – präventive, niederschwellige Angebote, damit es erst gar nicht dazu kommt. Ein weiterer, ergotherapeutischer Ansatz ist die sogenannte schulbasierte Ergotherapie. Die dort tätigen Ergotherapeut:innen dürfen sich die Frage stellen: Ein Kind oder die ganze Klasse? Auch alte und ältere Menschen neigen mitunter dazu, Krisen mit sich selbst auszutragen, etwa Gedanken an Suizid. Das wird oft verschwiegen. Eine Herausforderung für Ergotherapeut:innen, die den Themen „Tod“ und „Sterben“ mehr Sichtbarkeit geben wollen, indem sie ihre Berufskolleg:innen zum Thema fortbilden und auf anderen Wegen informieren.
Die Blankoverordnung: Herausfordernd in der Umsetzung, grandios ab der Implementierung
Drei Lücken lassen ist die Aufgabe von Ärzt:innen, die – zum Wohle ihrer Patient:innen und budgetneutral – seit mittlerweile einem Jahr Blankoverordnungen für Ergotherapie ausstellen dürfen. Wie das Zusammenspiel und die Zusammenarbeit dieser Berufsgruppe ist, beleuchtete der Inhaber einer Ergotherapie-Praxis ebenso wie seine Erfahrungen mit den Klient:innen – so nennen Ergotherapeut:innen die von Ärzt:innen überwiesenen Patient:innen – oder den Planungstools und -mustern. Er berichtete von den Herausforderungen beim Übergang von getakteten, fest vorgegebenen Interventionseinheiten auf flexible Termine für Klient:innen mit einer Blankoverordnung und wie der Austausch mit Kolleg:innen für wichtige Schritte in der eigenen Ergotherapiepraxis sorgte. Sein Resümee: Diese Challenge lohnt sich allemal, da sie in aller Regel schnellere und effizientere Behandlungsergebnisse bringt, was zusätzlich zu kürzeren Wartelisten bei Ergotherapeut:innen führt. Die Zahlen der Vertreter der AOK Krankenkasse sprechen ebenfalls für sich: Die Blankoverordnung hält deutlich ansteigend Einzug in die ergotherapeutischen Praxen. Anfängliche Fehler auf der Verordnung wurden (meist) gemeinsam behoben und auch sonst sei „alles im grünen Bereich“. Das sieht das Vorstandsmitglied des zuständigen Ressorts genauso. Sie will im Austausch bleiben und spricht direkt die nächsten Ziele an: die Erweiterung der Blankoverordnung und den Direktzugang.
In Bewegung
Mag sein, vieles ist derzeit zum Weglaufen. Aber Laufen oder Gehen hat auch sein Gutes: Bewegung kann Leichtigkeit bringen, gerade wenn Ergotherapeut:innen beim „Walk“ so schwere und schwerwiegende, komplexe Themen wie Umweltsensibilität im ergotherapeutischen Arbeitsalltag, Menschlichkeit in der Ergotherapie, Planetare Gesundheit oder psychische Erkrankungen junger Menschen miteinander besprechen, sich über ihre Erfahrungen und mögliche Lösungsansätze austauschen. Lösungen für den Praxisalltag halten die etwa 70 Anbieter:innen und Dienstleister:innen der begleitenden Fachausstellung bereit. Das Angebot ist ebenso breit gefächert wie das Betätigungsfeld von Ergotherapeut:innen. Hier können sie alles selbst vor Ort ausprobieren, sich informieren oder erklären lassen: Stifte jedweder Ausrichtung, Orthesen, Hilfsmittel, Abrechnungsprogramme- und hilfen, Gewichtstiere, Literatur,( Lern-)Spiele und -medien, Rehabedarf und vieles mehr wechselte den Besitzer oder wird demnächst geliefert. Ein gutes Geschäft, denn viele der anwesenden rund 1.900 meist Ergotherapeut:innen nutzten die Gelegenheit, Nötiges für den Arbeitsalltag zum Kongresspreis zu erwerben, gerne. Vom regen Interesse profitierten auch die Hochschulen, die teils berufsbegleitende Studiengänge in Ergotherapie anbieten oder diejenigen, die für Fortbildungen zur Wissenserweiterung von Ergotherapeut:innen warben.
Was sonst noch geht – in der Ergotherapie und beim Kongress
Das Spektrum der Ergotherapie bedient eine große Themenvielfalt, was sich im Kongressprogramm spiegelte: Interessierte konnten sich beispielsweise zu Pacing und der Fortentwicklung dieses Vorgehens für ein optimales Energiemanagement informieren, oder erfahren, welche digitalen Fortschritte es derzeit in der Ergotherapie gibt, welche pädagogischen Impulse Ergotherapeut:innen in ihren Berufsalltag einfließen lassen können, welche Entwicklungen es aus dem Bereich der Neurologie für betroffene Klient:innen gibt oder wie Best-Practice und evidenzbasiertes Arbeiten aktuell am besten ihren Weg in den Arbeitsalltag finden. Wer sich kurz und knapp einen Einstieg in Themen wie beispielsweise „hochbegabte Kinder“, „Behandlungskonzepte oder Angebote für Menschen mit Post Covid“, „die neue Begriffsbestimmung Ergotherapie“ oder „tiergestützte Ergotherapie“ und weitere über 30 Themen verschaffen wollte, war in der Posterausstellung gut aufgehoben und kann sich dank der hinterlegten Kontaktmöglichkeiten sofort oder zu einem späteren Zeitpunkt um weitere Informationen oder Kooperationsmöglichkeiten bemühen.
Deutscher Verband Ergotherapie e.V.
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