Soziotherapie, Sozialpsychiatrie, Mentalisierung, Soziale Arbeit, Weiterbildung

Mentalisieren beschäftigt sich mit Motiven, Gefühlen und Wünschen, die Handlungen begründen. Dies ist Teil einer Alltagspsychologie, jede und jeder macht das, entwickelt Vorstellungen über Motive und Gefühle anderer. Dazu braucht es Fantasie, also Vorstellungskraft und Präzision, denn wenn meine Einschätzungen daneben liegen, trete ich rasch in „Fettnäpfchen“ oder es kommt zu Missverständnissen. Liege ich richtig, und ich kann meine Motive und die anderer zutreffend reflektieren, dann kann ich meine Gefühle besser regulieren und gewinne Sicherheit und Vertrauen in Beziehungen. Ich kann andere besser verstehen und soziales Lernen anregen. „Wenn ich mich verstanden fühle, werde ich bereit sein von der Person, die mich versteht zu lernen. Von dieser Person nehme ich an, sie ist eine vertrauenswürdige Person in der Zusammenarbeit. Dies schließt Lernen über mich selbst genauso ein, wie Lernen über andere und die Welt“ (Fonagy et al 2022, S. 7, Übersetzung HK).
Das Mentalisierungsmodell ist wissenschaftlich fundiert (Kirsch & Brockmann 2024) und gilt als relevanter Wirkfaktor in Psychotherapie und psychosozialen Interventionen, wie Beratung oder Begleitung für Menschen in psychischen Extremsituationen (wie z.B. bei Angst, Depression, Traumafolgestörungen oder Psychosen). Die Fähigkeit zu mentalisieren entwickelt sich in der frühen Kindheit, über das Jugendalter und die gesamte Lebensspanne. Schwere Kindheits-belastungen oder Traumaerfahrungen und psychische Erkrankungen schränken diese Fähigkeit ein.
Eine gemeindenahe psychiatrische Versorgung, Kinder- und Jugendhilfe, Suchthilfe und viele andere Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit brauchen ausgebildete Fachkräfte. Neben Praxiserfahrungen gehören Kenntnisse und Kompetenzen dazu, sowie Selbstreflexion und berufsbezogene Selbsterfahrung (beispielsweise Fallreflexion in Gruppen). Obwohl viele Fortbildungsangebote zur Soziotherapie/Sozialpsychiatrie systemisch oder eklektizistisch, d.h. auf einer Methodenvielfalt, aufgebaut sind, wurde an der Evangelischen Hochschule in Darmstadt am Campus 3L ein wissenschaftlich fundiertes Fortbildungsangebot geschaffen, das
methodisch alleine am Mentalisierungs-konzept ausgerichtet ist. Dies ermöglicht eine einzige Methode vertieft kennenzulernen, in verschiedenen Arbeitsfeldern, in Theorie, Praxis und einer Selbstreflexion in Gruppen. Damit werden berufsbezogene Kompetenzen weiterentwickelt, insbesondere die Fähigkeit psychosozialen Stress besser zu bewältigen (Schwarzer et al 2025). Die Fortbildung hilft Zusammenbrüche und ineffektives Mentalisieren früher zu erkennen und gelingendes Mentalisieren zu fördern. Damit erleichtert sie den Aufbau vertrauensvoller Arbeits-beziehungen in verschiedenen psychosozialen Handlungsfeldern und hilft bei der Emotionsregulierung der Adressat*innen und Fachkräfte.
Durch belastende Lebensumstände in Kindheit und Jugend, durch Enttäuschungen oder Verletzungen in Bindungsbeziehungen entsteht häufig eine besondere Form des Misstrauens, das sogenannte epistemische Misstrauen. Epistemisches Misstrauen führt dazu, dass (auch später) Bezugspersonen nicht vertraut wird. Soziales Lernen und eine persönliche Weiterentwicklung werden dadurch erschwert. Selbst Interventionen „guter Praxis“ laufen ins Leere und alle Beteiligten, Fachkräfte und Adressat*innen, werden dann häufig frustriert. Die misstrauische Person wird zunehmend isoliert und ausgeschlossen.
Ein Verständnis für die Entstehungs-bedingungen und Hintergründe epistemischen Misstrauens erleichtert die Perspektivenübernahme und Einfühlung der Fachkräfte und verhindert weitergehende Diskriminierung.
Das Mentalisierungskonzept bietet Erklärungsansätze und Handlungsmöglichkeiten an, um epistemisches Vertrauen wiederherzustellen (Kirsch et al, in Druck). Als allgemeines Wirkmodell ist es nicht auf spezifische Altersgruppen oder psychischen Erkrankungen begrenzt und kann sowohl bei schweren psychischen Erkrankungen (Weijers et al 2020), in der Kinder- und Jugendhilfe (Behringer 2021) oder sozialen Gruppenarbeit (Fonagy et al 2017) erfolgreich eingesetzt werden.
Explizites Lernen, wie beispielswiese in der Schule, hat sich alleine als nicht ausreichend erfolgreich herausgestellt, um Mentalisieren in beruflichen Kontexten zu verbessen. Daher wird in Mentalisierungstrainings die Verbindung zur Praxis durch Übungen und Fallbeispiele, durch Rollenspiele oder Fallreflexion in der Gruppe in den Vordergrund gerückt. Bisherige Forschungsergebnisse konnten zeigen, dass eine Kombination verschiedener Lernformen erfolgreich eingesetzt werden kann (Georg et al 2023, Kirsch et al ).
Fazit
Sozialpädagogische Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe, Gemeindepsychiatrie, Suchthilfe oder anderen Beziehungs- und beratungsintensiven Arbeitsfeldern leisten anspruchsvolle und meist schwierige emotionale Arbeit. Angesichts einer zunehmenden Belastung der Fachkräfte, z. B. durch Fachkräftemangel, ist eine Verbesserung der Qualifikation durch Fortbildungen in Soziotherapie und oder Sozialpsychiatrie eine geeignete Maßnahme zur
Stressreduzierung und Professionalisierung. Eine Fortbildung, die an einem wissenschaftlich gut fundierten Modell ausgerichtet ist, bietet Vorteile für die Praxis und ist nachhaltig im Sinne einer verbesserten Resilienz der Fachkräfte.
Anmerkungen
Kirsch, H., Behringer, N., Henter, M. et al (2024)Ist Mentalisieren lehrbar? Zur Aus- und Weiterbildung in mentalisierungsbasierter Pädagogik. https://doi.org/10.13109/9783666700170
VON Prof. Dr. Holger Kirsch
Arzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker, Lehranalytiker und Supervisor. Koordinator des Erasmus Projektes „Entwicklung eines Modellcurriculums für pädagogische Fachkräfte“ (2019-2022).
Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Mentalisieren in der Pädagogik, Sozialen Arbeit und Psychotherapie.
Zertifikatsleiter Zertifikatskurs Soziotherapie/Sozialpsychiatrie – Beziehungen gestalten und Mentalisieren fördern am Campus 3L der Evangelischen Hochschule Darmstadt.
Campus 3L gGmbH
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